Rollstuhl-Athlet Heinz Frei: «Der Sport gibt mir einen Lebenssinn»

Heinz Frei (63) ist ein Pionier des Rollstuhlsports und hat in seiner Karriere quasi alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Nun tritt er in Japan seine letzten Paralympics an. Sein Kampfgeist ist ungebrochen.

Rollstuhl-Athlet Heinz Frei: «Der Sport gibt mir einen Lebenssinn»
Ricardo Tarli

Heinz Frei, mit 63 Jahren gehören Sie zu den ältesten Teilnehmern der diesjährigen paralympischen Sommerspiele in Tokio. Ist da der Hunger nach einer Medaille noch genau so gross wie am Anfang Ihrer beispiellosen Karriere?
Heinz Frei: Mein Ehrgeiz ist noch immer gross. Für mich ist es eine unheimlich grosse Befriedigung, dass ich mich in der Qualifikation gegen deutlich jüngere Athleten durchgesetzt habe. Nun will ich der Welt beweisen, dass ich mein Olympia-Ticket zu Recht bekommen habe.

Gibt es Stimmen, die sagen, Sie hätten einem Jüngeren Platz machen sollen?
Ja, die gibt es, mir wird dann gesagt «Heinz, jetzt ist aber mal Schluss, ich will auch mal gewinnen». (lacht)

Und was antworten Sie?
Unsere Favoritin im Team ist 36 Jahre alt. Bei meiner Altersangabe ist halt ein Schreibfehler passiert: Die Zahlen wurden vertauscht.

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Sie fühlen sich wie 36?
Ja, ich fühle mich toptfit und bin bereit, diese Herausforderung in Tokio anzunehmen und erfolgreich zu meistern. Mein Kampfgeist und die Begeisterung für den Sport und den Wettkampf sind noch immer ungebrochen. Aber Sie haben schon recht, der Druck, eine Medaille nachhause zu bringen, ist kleiner geworden. Meine Rolle ist heute die eines Spielverderbers, der dem einen oder anderen Favoriten d‘Suppe versalzt.

Wie meinen Sie das?
Rivalitäten sind part oft the game. Beim Strassenrennen will ich versuchen, so lange wie möglich mit der Spitzengruppe mitzuhalten. Ergibt sich auf der Bergstrecke die Gelegenheit auszureissen, werde ich diese Chance packen und angreifen. Ein Platz unter den ersten fünf wäre ein Superresultat. In Tokio werde ich an drei Wettkämpfen antreten: Neben dem Strassenrennen werde ich das Zeitfahren im Paracycling und die Team-Staffel bestreiten.

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Nach Ihrem Sportunfall 1978 kämpften Sie sich Schritt für Schritt zurück ins Leben. Welche Rolle spielte dabei der Sport?
Eine entscheidende. Der Sport gab mir einen Lebenssinn. Er war und ist viel mehr als nur Selbstzweck. Dank des Sports habe ich mich aus dem Elend, indem ich mich in den ersten Jahren nach dem Unfall befand, herauskämpfen können und der Verzweiflung und Perspektivlosigkeit entrinnen. Der Sport sorgt dafür, dass mein Körper nicht verkümmert.

Körperliche Fitness bedeutet für Sie Lebensqualität?
Genau. Solange ich regelmässig trainiere, bin ich beweglich genug, um den Alltag selbständig bewältigen zu können, zum Beispiel kochen, putzen, einkaufen gehen oder der Gang zur Toilette. Ich kann sogar eine Treppe ohne Hilfe runterfahren. Als alleinerziehender Vater habe ich zwei Kinder versorgen können. Dass ich diesen langen und beschwerlichen Weg geschafft habe, erfüllt mich heute mit Dankbarkeit und Stolz.

Wie haben Sie Ihren Lebensunterhalt bestritten?
Ich war nie Profisportler, sondern habe immer mindestens 50 Prozent gearbeitet. Zusätzlich bekomme ich eine 50-Prozent-Rente der Unfallversicherung.

Sie haben eine ganze Generation Behindertensportler inspiriert und gelten als Wegbereiter für nachkommende Generationen. Wenn Sie sich in die Anfangszeit Ihrer Karriere zurückversetzen, hat man Sie damals überhaupt ernst genommen?
Nein, weil man sich nicht vorstellen konnte, dass dieser Sport auch Leistungssport ist, dass man viel Zeit investieren und täglich trainieren muss. Wir vom Rollstuhlclub mussten uns oft rechtfertigen, dass mehr dahintersteckt als nur Rehabilitationssport. Zusammen mit Peter Gilomen aus Kriens tüftelte ich an einem Rennrollstuhl und gewann mit der Marke Eigenbau 1984 den ersten bei paralympischen Spielen ausgetragenen Marathon. Eine Marathon-Strecke ist 42,2 Kilometer lang.

Viele Rollstuhlfahrer machen die Erfahrung, mitleidig und von oben herab behandelt zu werden. Wie gehen Sie damit um?
Das passiert mir selten. Hingegen geschieht es oft, dass Autofahrer mein Handbike mit einem Liegevelo verwechseln. Davon fühlen sich manche provoziert. Sie halten Liegevelos für einen Spleen und zeigen mir den Vogel.

Wie respektlos.
Viele Leute machen sich einfach keine Gedanken. Sie begreifen nicht, dass ich mein Leben im Rollstuhl meistern muss und deshalb auf ein besonderes Sportgerät angewiesen bin. Handbiking, auch Paracycling genannt, ist nun mal eine Randsportart, die in der breiten Bevölkerung auf wenig Interesse stösst.

Jeder Rollstuhlfahrer kennt das Gefühl der Ausgrenzung. Was sind Ihre Erfahrungen?
Im Alltag gibt es überall Barrieren, die uns Rollstuhlfahrern das Leben schwer machen, zum Beispiel bei der SBB. Man muss sich weit im Voraus anmelden. Der Ein- und Ausladevorgang ist umständlich und dauert lang, weil ich mit dem mobilen Lift abgeholt werden muss. Da kann es schon passieren, dass der nächste Zug bereits abgefahren ist. Beim Einkaufen im Supermarkt bin oft auf die Hilfe von Kunden oder Mitarbeitenden angewiesen, weil ich die Ware in den höheren Regalen nicht greifen kann.

Der Leistungssport hat massgeblich dazu beigetragen, dass Sie ein eigenständiges Leben führen können. Wie sähe Ihr Leben aus, wenn Sie nicht über eine herausragende körperliche Konstitution verfügen würden?
Da wird mir ein bisschen bang, wenn ich darüber nachdenke. Meine Lebensqualität wäre nicht annähernd so gut. Ich hätte mit Übergewicht zu kämpfen, wäre fremdbestimmt und auf Pflege angewiesen. Ich würde vermutlich mit dem Schicksal hadern und unter Depressionen leiden.

Zusätzlich würden mich paraplegiespezifische gesundheitliche Probleme wie Druckgeschwüre oder eine gestörte Darmfunktion beeinträchtigen. Ein aktives Leben fördert hingegen den Verdauungsprozess und die Darmaktivität. Die Verstopfungsgefahr wird so viel kleiner und vereinfacht die Entleerung. Hinzu käme das Risiko von Knochenbrüchen, das bei jedem Paraplegiker aufgrund von Osteoporose hoch ist.

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All diese Beeinträchtigungen sind ein zusätzliches Handicap für einen Spitzensportler, der im Rollstuhl sitzt.
Ja, einen teilweise gelähmten Körper auf Hochleistung zu trimmen verlangt enorm viel Disziplin, Willenskraft und Durchhaltevermögen – und ein gutes Körpergefühl, damit ich den Unterleib nicht vernachlässige und ihn gut pflegen kann. Eine reichhaltige und ausgewogene Ernährung gehört unbedingt dazu.

Ich achte sehr auf mein Gewicht. Dieser Aspekt ist, neben dem täglichen Training, der Hauptgrund dafür, weshalb ich mit 63 Jahren körperlich und geistig so fit geblieben bin. 15 bis 25 Trainingsstunden kommen so wöchentlich zusammen, in Kilometern ausgedrückt sind es 400 bis 600 km.

Übergewicht ist für viele Menschen ein Problem. Haben Sie einen Tipp, wie der Hunger gezügelt werden kann?
Um keine Lücke entstehen zu lassen zwischen Nahrungsaufnahme und Verbrennung von Kalorien braucht es ein Bewusstsein zum Essen und, auch ganz wichtig, zum Trinken. Das geht nicht ohne Disziplin und Eigenverantwortung. Genussmomente bleiben dabei erlaubt. Ab und zu gönne auch ich mir es Gläsli Wy oder es Bierli.

Wie stellen Sie sich das Leben im Alter vor?
Der Blick in die Zukunft macht mir keine Angst. Wenn ich ältere Menschen sehe, die gesund und lebensfroh sind, stimmt mich das zuversichtlich. Ich denke, es ist wichtig zu lernen, Verantwortung abzugeben und Hilfe anzunehmen – und sich mit dem zufriedenzugeben, was man hat und sich nicht darüber zu beklagen, was einem fehlt. Meine Eltern sind um die 90 und leben weitgehend selbständig. Es fällt ihnen nicht leicht, Hilfe anzunehmen. Das sorgt zuweilen für Frustration.

Wie haben Sie für ein selbstbestimmtes Leben im Alter vorgesorgt?
Meine Frau ist acht Jahre jünger als ich und wird mich versorgen. (lacht) Im Ernst: Wir haben uns gegenseitig abgesichert, mit einem Ehevertrag, damit der hinterbliebene Partner finanziell abgesichert ist. Zudem zahlen wir in die 3a-Säule ein. Wir haben eine Patientenverfügung und einen Vorsorgeauftrag gemacht. Im Ernstfall schaffen solche Dokumente Klarheit. So habe ich diese Dinge regeln können, solange ich noch bei klarem Verstand bin.

Die bevorstehenden Paralympics werden Ihre letzten sein. Damit geht eine Ära zu Ende. Werden Sie mit Wehmut nach Tokio reisen?
Ganz bestimmt. Zu Japan habe ich eine besondere Verbindung. Nach dem ersten Mal im Jahr 1983 war ich immer wieder dort und konnte viele Siege feiern. 1999 stellte ich in Oita einen Weltrekord im Rollstuhl-Marathon auf, der noch immer Bestand hat. Daraufhin wurde ich dort zum Ehrenbürger ernannt. Marathonlaufen ist in Japan sehr populär, die Athleten geniessen deshalb hohes Ansehen. Mit den letzten Paralympics meiner Karriere im Land der aufgehenden Sonne schliesst sich quasi ein Kreis. Mein nächstes Ziel steht schon fest: der Berlin-Marathon, der Ende September stattfinden wird.

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Über Heinz Frei

Heinz Frei, 63 gehört zu den erfolgreichsten Schweizer Sportlern aller Zeiten. Der Solothurner und Weltrekordhalter gilt als Pionier des Rollstuhlsports und gilt in der Paralympics-Szene als Legende und für viele Athleten als Vorbild. Der Para-Sportler holte an Paralympics 15 Goldmedaillen in drei Sportarten (Leichtathletik, Handbike, Langlauf). Er gewann 14 Weltmeistertitel in der Sparte Handbike und Leichtathletik sowie 112 Marathonsiege (Rennrollstuhl und Leichtathletik). Dazu kommen mehrere Silber- und Bronzemedaillen an Paralympics und etliche an Welt- und Europameisterschaften. Seit mehr als zwanzig Jahren hält Heinz Frei den Weltrekord im Rennstuhl-Marathon (1h, 20min,14s).

Im Rahmen der «Sports Awards» ist er zehnmal als Behindertensportler des Jahres ausgezeichnet worden. Von 1999 bis 2017 baute er im Paraplegikerzentrum Nottwil als verantwortlicher Leiter die Nachwuchssportförderung auf. Von 2003 bis Anfang 2021 war er Mitglied im Stiftungsrat. Seit einem Unfall bei einem Berglauf im Jahr 1978 – er war gerade mal 20 Jahre alt – ist der gelernte Vermessungszeichner querschnittgelähmt. Er ist verheiratet und wohnt in Oberbipp. Aus erster Ehe hat er eine Tochter (28) und einen Sohn (31). (tar)