Ist Unternehmertum in der Langzeitpflege möglich?

Die Branche der Altersversorgung hat sich am Montag in Langenthal getroffen. Referent Otto Bitterli machte am summit24 des dialog@age den Teilnehmenden Mut. Gleichzeitig sorgte der Helvetic-Care-VRP mit seinen provokativen Thesen für Diskussionen. Deshalb hier nochmals seine Rede in voller Länge.

Otto Bitterli
Otto Bitterli war Referent am summit24 des dialog@age.
Otto Bitterli Helvetic Care

Sehr geehrte Damen und Herren

Herzlich danke ich Ihnen für die Einladung zu diesem Austausch am summit 24 des dialog@age. Ich wurde von den Organisatoren wohl deshalb zu diesem Inputreferat eingeladen, weil ich als Verwaltungsratspräsident der Helvetic Care AG auf helveticcare.ch einige – teilweise auch provokative – Artikel zum Thema Alter oder vielmehr zum Thema «Altern als Prozess» geschrieben habe.

Übrigens: Auf helveticcare.ch haben wir eine schlummernde Datenbank mit über 2500 Altersinstitutionen. Sämtliche Versuche, daraus und damit etwas zu machen sind bis anhin kläglich gescheitert. Transparenz scheint in Ihrer Industrie niemand wirklich zu wollen.  (Wie Sie sehen, möchte ich meinem Ruf als provokativer Referent vollumfänglich gerecht werden ….)

Mein Referat werde ich in drei Teile aufteilen. Zum einen gehe ich der Frage nach, «wann ist man eigentlich alt?» Zum anderen möchte ich Sie mit sechs Thesen und entsprechenden Fragen konfrontieren. Schlussendlich werde ich mit einem Appell an Sie meine Ausführungen beenden. 

Was ist dialog@age?

dialog@age setzt sich als erste nationale Plattform sektorenübergreifend für den Dialog zwischen allen Stakeholdern in der Altersversorgung ein. Am 8. April 2024 traf sich die Branche am summit24 in Langenthal. An diesem Gipfeltreffen ging es um das Thema Grosswetterlage in der Langzeitpflege. Zu den Referenten gehörte Otto Bitterli, Verwaltungsratspräsident der Helvetic Care AG und ehemaliger SEO der Krankenkasse Sanitas. 

Wann ist man alt?

Zurück zum Prozess des Alterns. Das Alter beginnt ja bereits früh: Man bezahlt ab 18 in die AHV und dann ab 25 Jahren in die Pensionskasse ein, damit man im Alter genügend Geld hat. Mit 50 realisiert man, dass die berufliche Karriere sich dem Ende zuneigt. Danach muss man aber mit aller Kraft bis 65 weiterarbeiten, weil die jüngeren Mitarbeitenden offensichtlich viel agiler sind und weil viele mit 65 weniger Geld zur Verfügung haben, als sie ursprünglich gedacht haben.

Viele Menschen haben den Eindruck, sie hätten mit 65 Anspruch auf die volle AHV-Rente und wissen nicht, dass dies nur bei lückenloser Einzahlung der AHV und einem durchschnittlichen Verdienst von CHF 87’500.- pro Jahr der Fall ist. Zudem werden die bisherigen – lediglich auf Papier vorhandenen – Umwandlungssatzsenkungen plötzlich real.

Mit 65 geht man in Rente. Eine neue Selbstbestimmung ist zwingend, da man gesellschaftlich in der ökonomisch geprägten Schweiz halt nichts mehr wert ist. Indirekt über «Fronarbeit» oder «Enkelkinder hüten» kann man einen Beitrag leisten. Verdienen sollte man aber nichts mehr, weil man AHV kriegt und eben in Rente ist. So sehen es unsere Gesetze vor. Und dann bleiben immer noch womöglich 30 Jahre bis zum Lebensende – bedeutet dies selbstbestimmt leben im Alter? 

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Für viele ist gerade der Abschnitt zwischen 65 und 80 mit Tatendrang und Reisen sehr positiv verknüpft. Aber, es gibt – vergleichbar zur Phase der Teenager in der Jugend – auch solche, die auf die schiefe Bahn kommen, keinen neuen Tritt mehr finden. Darüber liest man wenig.

Ab 80 wird es dann schwieriger, man ist in aller Regel auf irgendwelche unterstützenden Elemente wie Rollatoren, Spitex oder Programme für chronisch Kranke angewiesen und man verliert leider sozialen Kontakt um sozialen Kontakt. Die Vereinsamung droht.

Und ganz am Ende, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man multimorbide und/oder dement in einem Heim landet. Die Medizin bringt keine Verbesserung mehr. Man wird auch medizinisch ausgesteuert und landet bei Ihnen, in Ihren Institutionen. Die Krankenkassen bezahlen nur noch die medizinische Pflege, abgestuft nach Falleinteilung, nach Pflegestufenindex.

Das alles zusammen nennt man den dritten Lebensabschnitt, obwohl es die Hälfte des Lebens ausmacht und man sehr unterschiedliche Lebensphasen durchläuft. Und immer noch herrscht das Bild vor, alle Alten fahren beschwingt und glücklich mit dem Zug durch die Schweiz und geniessen tagein, tagaus.

Und ja: Überall hat es Alters- und Pflegeheime, das stellt man fest. Aber darüber hört und liest man kaum etwas. Es sei denn aufgrund ausserordentlicher Situationen: Finanzprobleme, Fachkräftemangel, Covid, Übergriffe, Medikamentenmissbrauch …

Alles negativ untermalt. Vielleicht spricht man ja gescheiter nicht darüber, denn gemäss Umfragen möchte auch keine und keiner mehr dahin. Gut, die Gemeinde hat das finanziert und dann kann ich es mir gerade noch leisten, wenn es mich trifft. Wahlfreiheit? Selbstbestimmung?

Sie kennen es alle: Über 90% aller Pflegeheimeintritte erfolgen via Spital. Dann, wenn die Krankenkasse den Spitalaufenthalt nicht mehr bezahlt, weil keine Verbesserung der gesundheitlichen Situation möglich ist. Und da stellt sich aktuell wohl zu Recht die Frage: Weshalb sollte ich mich als Alters- oder Pflegeheim unternehmerisch verhalten und z. B. Marketing betreiben? Das ist doch herausgeworfenes Geld!

Helvetic Care blickt aus der Brille der «jüngeren Alten» Richtung «höheres Alter». Das ist auch das, was ich Ihnen hier als Beitrag bieten kann. Ich bin weder ein Altersheim- noch ein Pflegeheimspezialist und auch kein Spitex-Kenner. Am ehesten kann ich etwas zur Finanzierung, zu Versicherungen, beitragen. Aber grundsätzlich bin ich ein Mensch, ein Bürger, ein Babyboomer, der sich darüber Gedanken macht, was mich womöglich in Zukunft erwarten könnte.

Sechs provokative Thesen und Fragen

These 1: Goldene Jahre stehen Ihnen unternehmerisch bevor

Die künftige Marktentwicklung ist für sämtliche Institutionen, die sich mit Menschen im Alter beschäftigen, positiv. Das «Gejammer» hat keinen Platz mehr.

Sie haben es gut! Kaum ein Markt wird in den nächsten 30 Jahren so wachsen wie derjenige, in dem Sie tätig sind: Goldene Zeiten brechen unternehmerisch an!

Nutzen Sie dieses Potenzial der ausgesprochen positiven Rahmenbedingungen und machen Sie diese für sich, für Ihr Unternehmen, zu einem Erfolgsfaktor.

These 2: Künftige Kunden ansprechen

Die Menschen wollen sich früher und bewusster auf das hohe Alter ausrichten – neue Wohnformen sind am Entstehen, die möglichst eine Versorgung bis zum Lebensende ermöglichen.

Wollen Sie neu entstehende Angebote (integriertes Wohnen und Leben, Mehrgenerationenhäuser, gemeinsame private Alterswohnungen) einfach der Selbstorganisation, den anderen überlassen oder wollen und können Sie als Unternehmen da einsteigen?

Wie gelingt es Ihnen, positive Ausstrahlung und Glaubwürdigkeit für die Kundinnen und Kunden von morgen – für die heute 60- bis 80-Jährigen – zu erzielen?

Haben Sie in Ihren Handlungen – vom Leistungsangebot über Behandlungsmethodiken bis zu Prozessen und finanzieller Unternehmensführung – diejenige Transparenz, die heute generell verlangt wird?

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These 3: Ausgeprägtes Bedürfnis nach mehr Individualität

Das Bedürfnis nach individueller Behandlung wächst und wächst. Dies wird eine Zwei- und Mehrklassengesellschaft bis ins hohe Alter fördern.

Insbesondere die Generation der Babyboomer ist geprägt von einem sehr hohen Mass an Individualität. Dies ganz im Kontrast zur vorhergehenden Generation, die einen stärkeren kollektiven Zusammenhalt und ein stärkeres kollektives Verständnis in sich trug und trägt.

Wie gehen Sie in Ihrer Institution auf Individuen ein? Ist bei Ihnen oberstes Gebot, alle gleichzubehandeln und werden individuelle Ausprägungen der Menschen eher als Last und als «zu korrigieren» wahrgenommen? Schaffen Sie bewusst unterschiedliche Angebote, damit die Menschen – wenn Sie es selbst bezahlen – auch wählen können?

Die Zwei- und Mehrklassengesellschaft ist m. E. eher ein Problem der Politik, der Öffentlichkeit und der Medien als ein Problem der Menschen. Diese sind es schliesslich gewohnt, dass vermögendere Menschen andere Ferien, andere Hotels wählen als weniger Begüterte. Adressieren Sie diese Thematik strategisch und in Bezug auf Ihre Ausrichtung bewusst?

These 4: Organisatorisch unternehmerische Flexibilität schaffen

In Zukunft ist immer mehr und höhere Flexibilität zwischen ambulant und stationär verlangt. (Einer Ihrer Kollegen hat das Wort «ambulant trotz stationär» geprägt. Das hat mich beeindruckt.) Das bedingt allerdings organisatorische Anpassungen.

Man sieht es bereits und gleichwohl dürfte noch ein langer Weg dazu vor uns liegen: Sämtliche Altersangebote und Organisationen (von Wohnangeboten über Spitex bis hin zu Alters- und Pflegeheimen) sind lokal in gewissen Gemeinden unter einem Dach. Das gibt unternehmerische Flexibilität und erleichtert die Reaktion auf sich verändernde Bedürfnisse. Aber: Man muss es dann auch umsetzen und eine neue Unternehmung mit neuer Identifikation bilden können.

Treffen Sie für sich entsprechende Vorkehrungen?

These 5: Mehr unternehmerisches Verhalten ist gefragt

Mehr Unternehmertum heisst nicht einfach mehr Geld verdienen, sondern Mehrwerte, Perspektiven schaffen, Inhalte und Sinn geben – schlicht: die Zukunft aktiv gestalten.

Immer wieder werde ich im Gesundheitswesen ganz generell damit konfrontiert, dass unternehmerisches Verhalten doch «schädlich» sei und die soziale Komponente ausheble. Dem kann ich überhaupt nicht zustimmen. Im Gegenteil: Das Gesundheitswesen hat einen sehr hohen Nachholbedarf an unternehmerischem Verhalten.

Dabei geht es eben nicht nur darum, den Gewinn zu maximieren. Sondern vielmehr auch um essenzielle Dinge, wie neue Perspektiven geben, künftige Mehrwerte schaffen, neue Identitäten gegen Innen und gegen Aussen entwickeln und Transformationen umsetzen. Solche unternehmerischen Herausforderungen müssen mit den finanziellen Möglichkeiten korrespondieren.

Haben Sie genügend unternehmerisch denkende und handelnde Menschen in Ihrer Institution? Wählen Sie bei personellen Veränderungen bewusst solche Profile aus? Sehen Sie die Menschen in Ihren Institutionen als Ihre Kundinnen und Kunden, auf deren individuelle Bedürfnisse Sie sich bestmöglich ausrichten?

These 6: Neue Rahmenbedingungen als Momentum zum Aufbruch

EFAS als Aufbruch nutzen – neue Formen der Zusammenarbeit aller Player? Ist das möglich?

Ich war schon immer – und bin noch immer – ein kritischer Geist, was die EFAS, die einheitliche Finanzierung von ambulant und stationär in der akuten Medizin und neu auch in der Pflege anbelangt. Weshalb?

Doch tun wir das künftig mit der EFAS auch wirklich?

Diesbezüglich bin ich skeptisch, und zwar aus meinen gesammelten Erfahrungen im Gesundheitswesen:

Droht uns mit EFAS dasselbe hoch drei? Der Pessimist in mir sagt ja – alles ist letztlich aktuell genau so angelegt. Der Optimist in mir sagt nein, wir können das gemeinsam verändern und gestalten.

Aber genau diese Veränderung muss m. E. nun rasch erfolgen. Die Veränderung braucht eine gemeinsame Basis und einen gemeinsamen Willen. Sie sollte in Gefässen wie dialog@age ihren Ursprung haben. Sich anders begegnen, zusammen aus den Fehlern von früher lernen und sich gemeinsam neu erfinden. Damit komme ich zum Appell an Sie:

Gehen Sie bitte gemeinsam in die Zukunft!

In diesem Sinne bedanke ich mich nochmals herzlich für die Möglichkeit mit einigen Gedanken am dialog@age Ihre Aufmerksamkeit absorbiert zu haben. Ich hoffe und wünsche mir, dass sich dialog@age als gemeinsame, innovative und vertrauensbildende Kraft entwickeln kann.

Eine gemeinsame Kraft für die alten und für die älter werdenden Menschen in unserem Land und für ein echtes, überzeugendes, unbürokratisches und finanziell erschwingliches selbstbestimmtes Leben im Alter!